Argumentarium

Der heutige Klimanotstand verlangt rasches, entschiedenes Handeln.

Appelle, das individuelle Verhalten zu ändern, genügen nicht; es braucht wirksame strukturelle Massnahmen. GratisÖV reduziert erwiesenermassen den motorisierten Individualverkehr und damit den CO2-Ausstoss.

Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass kostenloser ÖV ein Angebot ist, das motiviert, das Auto stehen zu lassen:

  • In der estnischen Hauptstadt Tallinn (430’000 EinwohnerInnen) hat seit Einführung der Gratisfahrten im Jahre 2013 der Anteil der Benutzenden etwa um 14% zugenommen. Der moderate Anstieg liegt vor allem daran, dass Bus und Bahn schon vorher für Teile der Bevölkerung kostenlos oder sehr billig waren, wie für RentnerInnen, SchülerInnen und Studierende.
  • In der belgischen Stadt Hasselt (70’000 EinwohnerInnen) wurde 1997 gratisÖV eingeführt, um dem stark ansteigenden motorisierten Individualverkehr entgegenzuwirken. Zehn Jahre später war die Anzahl der Fahrgäste um das Vierzehnfache angestiegen, und das Busnetz konnte massiv ausgebaut werden. Damit erübrigten sich auch verschiedene Strassenbauprojekte.
  • In der südfranzösischen Stadt Aubagne (45’000 EinwohnerInnen) haben sich seit Einführung des gratisÖV die Passagierzahlen stark gesteigert.

Die notwendigen ökologischen Massnahmen dürfen aber die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten finanziell nicht noch zusätzlich belasten!

GratisÖV ist eine ökologische und gleichzeitig soziale Massnahme.

Die Stadt Bern hat heute ein gut ausgebautes ÖV-Netz. Die Serviceleistungen sind gut und die Freundlichkeit des Personals von Bernmobil wird von der Bevölkerung geschätzt. Aber die Finanzierung des ÖV in der Stadt Bern ist unsozial. 64% der Fahrkosten werden über die Fahrpreise, die von jeder Person verlangt werden, finanziert. Das ist im internationalen Städtevergleich eine sehr hohe Quote!

Wie ist das anderswo?

  • In Frankreich wurde 1971 der ‘Versement transport’ eingeführt. Mit dieser kommunalen Abgabe beteiligen sich alle Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten massgeblich an der Finanzierung des ÖV (mit 0,5% – 1,75% der Lohnsumme).
  • In Wien existiert mit der ‘Dienstgeberabgabe’ seit 1970 eine ähnliche Steuer. Hier bezahlen die Unternehmen einen festen Betrag pro Arbeitsplatz und tragen damit etwa 40% der Kosten des ÖV.

In Bern muss jede Person, die den ÖV öfters benutzt oder die auf den ÖV angewiesen ist, ein Libero-Abo kaufen. Dieses ist mit 790 Franken pro Jahr sehr teuer für jemand, der nicht viel verdient. In einer Familie mit Kindern, wo mehrere Personen ein Libero brauchen, ergibt das eine hohe finanzielle Belastung.

Mit gratisÖV werden die gleichen Kosten gerechter verteilt.              

Bei Finanzierung über Steuergelder zahlen Gutverdienende verhältnismässig mehr, und Wenigverdienende werden entlastet. Aber auch die Firmen zahlen Steuern und entrichten so ihren Beitrag zur Finanzierung des ÖV.

GratisÖV macht die Stadt attraktiver. Das hat sich z. B. in der Stadt Tallinn gezeigt, die seit Einführung des gratisÖV im Jahr 2013 eine Zunahme der Steuereinnahmen erlebt hat. Wenn die Stadt Bern attraktiver wird, liegt dies auch im Interesse der Unternehmen. So ist es richtig, dass die Unternehmen mit ihren Steuern zur Finanzierung des ÖV beitragen!

Wer profitiert wieviel?

Nach dem jetzigen Tarifsystem bezahlt eine erwachsene Person, die den Nahverkehr regelmässig benutzt, jährlich 790 Franken für ein Libero-Abo. Nach der Annahme der Initiative werden die wegfallenden Kopfbeträge durch Steuergelder ersetzt. Gemäss den Zahlen des Gemeinderates (in seiner Antwort auf den PdA-Vorstoss für gratisÖV im Stadtrat) wäre dafür eine Erhöhung der Gemeindesteuer um 10% erforderlich.

Würde der aktuelle Steuerfuss von 1,54 um 10% auf 1,69 heraufgesetzt, erhöhte sich die Gemeindesteuer in der Stadt Bern wie folgt:

  • bei einem steuerbaren Einkommen von Fr. 31’000: Für Ehegatten und Ledige mit Unterstützungspflichten: von Fr. 1’434.70 auf Fr. 1’570.35, also um Fr. 135.65; Für Ledige ohne Unterstützungspflichten: von Fr. 1’736.90 auf Fr. 1’906.05, also um Fr. 169.10.
  • bei einem steuerbaren Einkommen von Fr. 57’000: Für Ehegatten und Ledige mit Unterstützungspflichten: von Fr. 2’934.95 auf Fr. 3’220.80, also um Fr. 285.85; Für Ledige ohne Unterstützungspflichten: von Fr. 3’517.90 auf Fr. 3’860.55, also um Fr. 342.65.
  • bei einem steuerbaren Einkommen von Fr. 82’000: Für Ehegatten und Ledige mit Unterstützungspflichten: von Fr. 4’636.80 auf Fr. 5’088.40, also um Fr. 451.60; Für Ledige ohne Unterstützungspflichten: von Fr. 5’496.80 auf Fr. 6’032.20, also um Fr. 535.40.

Fazit: Wer ein steuerbares Einkommen von weniger als Fr. 100’000 erzielt, spart mit dem Wegfall der Libero-Kosten in jedem Fall wesentlich mehr als er oder sie allenfalls mehr Steuern bezahlt. GratisÖV bringt für die Gering- und Normalverdienenden eine deutliche Einsparung!

Wird der gratisÖV einen Kapazitätsausbau des Tram- und Busnetzes mit den entsprechenden Investitionen erfordern?

Bern hat schon ein gut ausgebautes ÖV-Netz. Ein weiterer Ausbau wegen erhöhter Nutzung würde daher zu bedeutend weniger Kosten als anderswo führen. Ein solcher Ausbau ist  politisch auch erwünscht – sonst wären ja alle Absichtserklärungen zur Reduktion des CO2-Ausstosses blosse Lippenbekenntnisse! 

Die Planungen der Regionalkonferenz Bern-Mittelland rechnen in den nächsten zwei Jahrzehnten ohnehin mit einer erheblichen Erweiterung der Transportkapazität des ÖV in der Region und entsprechenden kantonalen Investitionen. Wenn der ÖV mehr benutzt und ausgebaut wird, ergeben sich andererseits Einsparungen, von denen niemand spricht. Langfristige Umweltkosten, der volkswirtschaftliche Schaden durch Verkehrsunfälle, die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Lärm und schlechte Luft erscheinen bisher nämlich in keiner Finanzrechnung!

Der Erfolg von gratisÖV hängt wesentlich davon ab, ob er Teil einer umfassenden Verkehrspolitik ist und die notwendigen begleitenden Massnahmen ergriffen werden.

Dies zeigten die Erfahrungen in Städten, die gratisÖV eingeführt haben. Die begleitenden Massnahmen umfassen ein eingeschränktes Parkraumangebot mit einer Parkraumbewirtschaftung, Einfahr- und Durchfahrverbote zur Verkehrsberuhigung und zugleich die Förderung des Fuss- und Veloverkehrs.

In dieser Hinsicht hat die Stadt Bern in den vergangenen 25 Jahren einiges unternommen, indem sie Parkplätze verringert und die schnelle Durchfahrt von Autos erschwert hat. Damit sind die Rahmenbedingungen zur Einführung von gratisÖV in der Stadt heute günstig. Wenn die Stadt künftig noch weitere Schritte unternimmt, damit der Fuss- und Veloverkehr sicherer wird, ist auch nicht zu erwarten, dass eine grössere Zahl von FussgängerInnen und VelofahrerInnen auf den gratisÖV umsteigen wird, wie dies von KritikerInnen befürchtet wird.

Gratis-ÖV steigert die Lebensqualität in der Stadt und in allen Quartieren.

Mit der Einführung von gratisÖV können die vorhandenen Verkehrsspitzen aufgefangen werden. Damit wird auch eine Verbesserung der Luftqualität erreicht, die in den verkehrsnahen Teilen der Stadt Bern immer noch ein Problem darstellt. Der öffentliche Verkehr kann auf vielen Strecken sicherer und effizienter funktionieren als der individuelle Verkehr, da er weniger Staus, Lärm und Unfälle verursacht.

Mit gratisÖV könnten mehr Begegnungszonen und autofreie Bereiche geschaffen werden. Die Städte, die gratisÖV eingeführt haben, konnten ihre Attraktivität erhöhen – was sich an einer grösseren Zahl von BesucherInnen und gestiegenen Detailhandelsumsätzen gezeigt hat.

GratisÖV kommt auch den Aussenquartieren zugute. Studien aus anderen Ländern zeigen: Vor allem in Stadtteilen mit einem höheren Anteil von Erwerbslosen, Wenigverdienenden und älteren Personen steigt die Nachfrage, wenn der Nahverkehr kostenlos wird. Damit nimmt die Lebensqualität nicht nur für die BewohnerInnen der Innenstadt zu, sondern auch für diejenigen, die nicht im Zentrum wohnen.

Die Einführung von gratisÖV ist eine Frage des politischen Willens. 

In der Grossstadt Tallinn wurde der gratisÖV 2013 nach einer Volksabstimmung mit einer Mehrheit von 75% eingeführt. Das Projekt wird von der Bevölkerung weiterhin getragen und hat eine entsprechende positive Ausstrahlung. Dies wird sichtbar am Umstand, dass 11 von 15 Regionen Estlands das Busfahren seit dem Jahr 2018 gratis gemacht haben.

In der flämischen Stadt Hasselt stellte sich ein spektakulärer Erfolg von gratisÖV ein. Innert 15 Jahren wurde das Busnetz von anfänglich vier auf schliesslich über 50 Linien erweitert. Aber 2012 kam eine konservative Regierung an die Macht, welche politisch nicht mehr willens war, das Projekt weiterzuführen und welche 2013 wieder Ticketpreise eingeführt hat. Diesen Rückschritt vollzog die konservative Regierung, obwohl der Erfolg von gratisÖV unbestritten war.

Angesichts des Klima-Notstandes haben wir heute jedoch gar keine Wahl mehr. Es gibt kein Dafür oder Dawider, ob wir wirksame Massnahmen ergreifen wollen, um die CO2-Emissionen zu reduzieren. Der entsprechende politische Wille ist heute zu einer Frage des Überlebens geworden.

Die Initiative verlangt freie Fahrt für alle BenutzerInnen von Bernmobil auf dem Gebiet der Gemeinde Bern.

Damit muss die Stadt keine Ticket-Infrastruktur mehr unterhalten (Fahrkartenautomaten, Kontrollen usw.) Wenn nur ausgewählte Personengruppen wie z. B. Jugendliche in Ausbildung, SeniorInnen oder Menschen mit Beeinträchtigungen gratis fahren dürften, wäre die ganze Ticket-Infrastruktur weiterhin notwendig.

Jede Person soll auf dem Gebiet der Gemeinde Bern frei in ein Tram oder einen Bus von Bernmobil einsteigen können – damit entsteht eine neue Selbstverständlichkeit, die in die Zukunft weist. In diesem Sinne soll die Stadt Bern eine Vorreiterinnenrolle einnehmen!

Mit dem Mittel einer städtischen Volksinitiative können wir gratisÖV nur bei Bernmobil auf dem Gemeindegebiet verlangen. Aber natürlich wünschen wir, dass die Nachbargemeinden und andere Transportunternehmen (Postauto, BLS, RBS) dem Beispiel folgen werden – dazu wird es weitere politische Vorstösse brauchen. 

Wir erwarten auch vom Gemeinderat der Stadt Bern, dass er diesbezüglich aktiv wird und dass er z. B. mit dem Verbund der schweizerischen Transportunternehmen verhandelt, damit BewohnerInnen der Stadt Bern beim Kauf eines GA eine Preisermässigung gewährt wird.

Durch die Covid-Pandemie ist eine schwierige ökonomische Situation entstanden – ist jetzt nicht der falsche Moment, um gratisÖV einzuführen?

In jeder wirtschaftlichen Krise spitzen sich die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Beginnende Rezession, drohende Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne sowie umfassende Versuche, die sozialen Leistungen abzubauen – all das war schon vor Covid-19 da. Die notwendigen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben diese Tendenzen aber deutlich verschärft.

Um die finanziellen Krisenverluste aufzufangen, sollen die grossen Unternehmen staatliche Unterstützungsgelder erhalten und gleichzeitig sollen die Unternehmenssteuern noch mehr reduziert werden. Die Krisenfolgen würden so auf die arbeitende Bevölkerung überwälzt, in Form eines weiteren Abbaus im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich.

Die betroffenen Menschen müssen sich wehren, damit dieser Plan nicht gelingt! GratisÖV bringt eine spürbare Entlastung für die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten, die Familien, die Jugendlichen, die Erwerbslosen und auch für die RentnerInnen.

Die Forderung nach gratisÖV ist ein Teil des Kampfes, damit diese Menschen nicht wieder für die neue Krise des kapitalistischen Systems bezahlen müssen!

Auch der Schutz des Klimas kann nicht länger warten.

Die Klima-AktivistInnen schreiben in ihrem ‘Krisenaktionsplan’ vom 25. Mai 2020:

“Verstärkte Ungleichheiten, eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise – es gibt viele dringende Probleme, die wir als Gesellschaft jetzt anpacken müssen. Die Klimakrise dabei zurückzustellen, wäre aber ein fataler Fehler. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir auf die Wissenschaft hören und frühzeitig handeln müssen, um angemessen auf Krisensituationen reagieren zu können. Die Normalität nach der Corona-Krise wird eine andere sein als die, die wir kannten. Grosse Veränderungen sind unvermeidbar. Es ist deshalb entscheidend, dass wir bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise nicht zusätzlich die Klimakrise befeuern. Stattdessen müssen wir die Überwindung der Corona-Krise und den Wandel hin zu einer klimagerechten Zukunft gemeinsam angehen.”

(https://climatestrike.ch/de/posts/crisis-action-plan) 

Als ersten Punkt nennt der ‘Krisenaktionsplan’ den Verkehr auf der Strasse und in der Luft als einen der grössten CO2-Emittenten in unserem Land; gefordert wird die Unterstützung von emissionsarmen Verkehrsmitteln. 

GratisÖV fördert die Nutzung dieser emissionsarmen Verkehrsmittel und verringert erwiesenermassen den motorisierten Individualverkehr. Darum ist unsere ‘gratisÖV-Initiative. Für einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr in der Stadt Bern’ eine konkrete Massnahme gegen den Klimanotstand!